Der Schlüssel zum Musikraum

Als Realschülerin wusste ich allerlei nicht, wie ich recht bald bemerkte. Konkret: Mein Französisch war sauschlecht. Der Lehrer riet mir nach drei Stunden in Klasse 11, den Kurs doch bitte abzuwählen. Es sei angesichts dieser Defizite, besonders in Grammatik, einigermaßen aussichtslos. Ich machte mir daraus, dass er es nicht für unmöglich hielt. Deswegen begann ich zu lernen, schloss auf, überholte und hatte im Abituraufsatz 15 Punkte. Ich glaube, dafür gab es einen Preis oder eine Urkunde oder so etwas, jedenfalls mit Stempel aus Paris. Meine Verwandten interessierten sich für das Abitur insgesamt wenig, aber der Stempel machte Eindruck.

Als ich Romanistik zu studieren begann, verfestigte sich bei ihnen das Bild einer Abschluss-Schleife. Sie entstammen, man merkt es hier, dem Schützenfest-Milieu. Darin kam das Abitur irgendwie auch vor, sagen wir mal, empirisch. Dass sie deswegen jubelten, nein. Womöglich war dieses Abitur erforderlich, um eine Banklehre anzutreten. Denn Maschinenbau, die andere Option für Personen des Milieus mit diesem sogenannten Abitur, schlossen sie für mich aus. Logisch, da Mädchen. Der Studienbeginn, eine Weile später, irritierte sie fast ausnahmslos. Ich habe Verwandtschaft, die bis heute ignoriert, dass man neben Maschinenbau und etwas Betriebswirtschaft noch anderes studieren kann. Sie wissen allenfalls von Juristen, aber die heißen in dem Umfeld „Paragraphenverdreher“, und solche werden nicht einmal geheiratet. Dann lieber gar nicht.

Meine Verwandten sind nette Leute; ich mag die. Ich weiß, sie finden mich komisch, aber das tut der Liebe keinen Abbruch. Sie unterstellten früher, es liege entweder an den vielen Körnern, die ich mit meinen Geschwistern ständig zu mir nahm – achtziger Jahre, die große ideologische Schlacht um Industriezucker, Kinderzähne, Selbstgeschrotetes und Sprossentöpfe. Oder womöglich auch daran, dass ich andauernd las. Die Verwandten hatten Ansichten zu meinen Augen; sie befürchteten dauerhafte Schäden. Auch der Rücken könnte krumm geraten und, wichtigstes Argument: Männer mögen das nicht. Mädchen! Wenn Du zu schlau wirst von dem ganzen Lesen, haben die Männer irgendwann Angst vor dir.

Ich besprach mich in solchen Angelegenheiten stets mit Papa, und er versicherte mich, dass Lesen schädlich sei. Nämlich gegen Blödheit. Ich finde dieses Argument bis heute überzeugend.

In der Oberstufe fiel mir nicht nur auf, was ich nicht wusste und eben durch Lernen kompensierte. Ich begriff, dass da noch ein anderes war. Es betraf Mitschülerinnen, die schon damals nicht Sonja oder Silke hießen, sondern vielsilbig und traditionell. Henriette, Friederike, Caroline, Marie-Christine. Ich teilte mit ihnen, dass wir gute Zensuren hatten. Ich teilte nicht, was sie in ihrer Freizeit taten. Sie lernten Instrumente, die ich mir bis heute anschauen muss, um sie zuzuordnen. Klari-O- Bratschi-nette. Oh Gott, dachte ich. Die Ärmsten. Sie mussten sich nach der Schule mit so etwas beschäftigen, während ich Kuchen backte oder im Buchladen arbeitete oder Kinder hütete oder las. Bücher, zum reinen Vergnügen.

Ich erinnere, dass ich versank in Eva Ibbotson. Sie schrieb Romane von geflüchteten Adeligen, die in Armut Internatsschüler hüteten, aber dann doch erkannt wurden. Eine der Henri-Fri-Carolinen teilte mir mit, Eva Ibbotson gehöre nicht zum Kanon. Ich entgegnete, ich läse sie im Original, und darauf hielt sie ihre Klappe. Die Christi-nette-Maria war nämlich in Englisch fünf Punkte schlechter als ich, obwohl sie Sprachferien besuchte, während ich in dem betreffenden Sommer Pflaumen entsteinte. Die ganze Saison hindurch, in einer Konditorei, von der man, zugeklebt nach einer Frühschicht, direkt ins Freibad gegenüber wechselte. Es war herrlich.

Ich beneidete also die sogenannten höheren Töchter nicht. Und wenn, dann höchstens um den Schlüssel zum Musikraum, über den diese verfügten. Sie mussten in der Pause nicht nach draußen, weil sie da drin ihre wertvollen Instrumente polierten oder so etwas. Keine Ahnung. Ich musste, wenn ich nicht nach draußen wollte, zu den Rauchern. Wo ich mir ein klein bisschen verwegen vorkam, aber nicht sehr. Und da lernte ich alles mögliche andere, wovon ich als Dorfkind echt keine Ahnung hatte.

Zum Beispiel, dass irgendwelche Mitschüler:innen gar nicht mehr zu Hause wohnten. Einfach ausgezogen; Wohngemeinschaft. Das interessierte mich wesentlich mehr als die Verwandtschaftsgrade der Vielsilbigen. Bayreuth war für mich immer nur ein anderes Schützenfest – vielleicht mit schöneren Kleidern, und relativ sicher kotzt da keiner hinters Zelt. Aber woanders wohnen, selbst entscheiden, was man isst und wann: Die Faszination der eigenen Speisekammer ist unter Geschwisterkindern selbsterklärend, ebenso das genussvolle Endlosduschen ohne Donnerfäuste an der Tür.

Die Jahre vergingen, wir wurden alle älter. Inzwischen ungefähr das Doppelte vom Abitur. Ich bin bis heute nicht auf die Idee gekommen, dass der Schlüssel zum Musikraum lebenswichtig ist. Ich verfolge aber Diskussionen aufmerksam, die genau davon handeln. Die Vorteile der Frie-line-Caro-Sophien im Rahmen von Kammermusik mit Erbhintergrund sind mir durchaus geläufig. Fakt: Manches ist leichter, wenn man Visitenkarten und Adressen hat, wenn einem der Schlüssel zum Musikraum auf dem Goldtablett gegeben wird.

Ich will nicht leugnen, dass ich auch gern nach dem Ende des Wintersemesters mit den Eltern nach Lanzarote oder La Gomera geflogen wäre. Dass bis heute manchmal wohlige Schauer über meinen Rücken laufen, wenn ich Zeitungen kaufe für zwanzig oder dreißig Euro. Das ist dieselbe Heimlichkeit, mit der ich früher saure Schnüre für zehn Pfennig aß. Meine Mutter hätte das persönlich genommen, gegen ihre Körner. Teile meiner Verwandtschaft sagen zu jeder überregionalen Tageszeitung: Ganz schön teures Papier dafür, dass Du da drauf Kartoffeln schälst.

Zusammengefasst: Für einige Mitschülerinnen der privaten gymnasialen Oberstufe, die ich als Realschülerin auf Empfehlung einer Alumna auch besuchte, war der Eingang in die akademische Welt sicher leichter als für mich. Die meisten von denen hatten früher Autos, Wohneigentum und Segelboote oder Kinder mit ähnlich lautenden Namen. Aber ich würde im Leben nicht darauf kommen, sie deshalb anzugreifen, eine Rechtfertigung, gar eine Selbstbezichtigung von ihnen zu erpressen – am besten noch nirgendwo im Internet, per Interview.

Diese Larmoyanz von Abiturienten ohne soziale Tapete, neuerdings nobilitiert zu einem Klassismus, der einem angeblich die Existenz vergällt: Also, diese Kleingeistigkeit befremdet mich viel mehr als jede bildungsbürgerliche Schraube, die den Mädchen mit den langen Namen manchmal locker sitzt. Letztere sind dabei wenigstens unterhaltsam. Auf die anderen, die Klage-Geister mit ihren Besitzphantasien, würde meine Schützenfest-Verwandtschaft mit ziemlicher Sicherheit das Pisspott-Kochtopf-Theorem anwenden. Es passt oft schön, aber selten so gut wie hier. Also:

Aus nem Pisspott wird kein Kochtopf, da kannst Du machen, was Du willst.

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