Die kleinen Schwestern, 40 Jahre später

Einer der meistgeliebten Texte auf diesem Blog handelt von meiner Schwester und mir, vor nicht ganz vierzig Jahren in Ascheloh im Wald. Wenn Sie auswärtig lesend sind: Das ist zwischen Halle und Künsebeck, an der Bundesstraße links rein. Teichstraße, weil rechter Hand Fischteiche sind. Links wenige Häuser, teils saniert. Die jedenfalls zum Ende, und an der Gabelung rechts hoch in den Ascheloher Weg. Wir lebten dort in einem Haus, das unsere Eltern sich gekauft hatten. Garten, Schaukel, Spielplatz, Wald – Kulisse der Achtziger Jahre, wenn man eine westdeutsche Familie mit Berufshintergrund war. Nicht ungelernte Industriearbeit, aber auch kein akademischer Hintergrund. Normal, möchte ich sagen.

Anders, sagten die Leute schon damals über uns. Die sind irgendwie anders. Waren wir das? Ich meine, nein. Grundsätzlich waren wir eben nicht anders oder gar Alternative, so die selbstgefällige Metapher arbeitsloser Akademiker. Wir aßen Butterbrot, fuhren Schulbus, durften nicht andauernd Fernsehen und nutzten unsere Tornister, bis sie wirklich kaputt gegangen waren. Anders war vielleicht, dass wir uns gesund ernährten, weil das für wichtig angesehen wurde. Anders war auch unsere Sozialisation in der katholischen Kirche. Aber das liegt an der Gegend. Wer hier glaubt, gehört eher zu denen, die wir Verkehrtgläubige nennen.

Bei uns war wichtig, dass man zur Schule ging, dem Unterricht folgte und nach erledigtem Aufenthalt von zehn oder auch dreizehn Jahren freiwillig das Weite suchte. Wir wurden nicht ausquartiert, hatten aber gelernt, dass Bildung unser Weg sein sollte. Bimbes, ein weiteres albernes Wort der Epoche, würde sich daraus ergeben. Kein Wert an sich, verstanden? Ob wir es damals ermessen konnten, bezweifle ich. Die häuslichen Verhältnisse waren jedenfalls so, dass wir uns fügten. Wenn Papa uns die Welt verordnete, begaben wir uns dort hinein. Wir fanden den gut, und deswegen machten wir ungefähr das, was er wollte. Die eine mehr, die andere weniger. Etwas Widerstand liegt in den Genen, wenigstens bei mir.

Wir wurden ganz gut erwachsen in dieser Gegend, in diesem Land. Was ich zu beklagen hätte, verläuft sich je mehr, desto älter ich werde. Gerecht, ungerecht? Ich höre Menschen meiner Generation oft Ungerechtigkeit bereden, sich ihrer eigenen Privilegiertheit schämen oder (im Gegenteil) klagen, über diese nicht verfügt zu haben. Gemeint ist hier oft Geld, in nachgedachten Fällen auch Symbolkapital. Aber hatte ich es schlechter, weil ich ohne Klavierstunde groß geworden bin? Was für ein Unsinn. Ich hatte es gut, denn ich wurde nicht geschlagen. Das war in dieser Zeit noch keine Selbstverständlichkeit. Es gab auch keinen Unterschied zwischen Schwestern und Brüdern. Nie hörte ich: Du heiratest doch später sowieso. Nimm dich nicht so wichtig. Zieh den Bauch ein. Mach mal Kaffee, putz das Klo.

Ich hatte vor sehr allgemein konservativem Hintergrund eine liberale Kindheit, und die Umgebung war Wald. Dorf, Kleinstadt. Nicht Hochhaus, keine Metropole. Leute wie ich meinen häufig, das sei normal. Gegeben. Unser Veränderungsdrang hält sich sozial wie räumlich absolut in Grenzen. Es ist soweit in Ordnung, und der Rest: Privat. Tür zu, Privatleben. Ist doch wohl klar, dass Kinder nicht geschlagen werden, dass denen bei den Hausaufgaben einer hilft. Dass Familie mehr ist als Mama, Papa, Bruder, Hamster und Pony (manchmal). Ich bin zum Beispiel mit Hingabe die Tante der Kinder meiner Schwester. Als solche lerne ich oft Kinder kennen, die bei denen ein und ausgehen, und davon wollte ich erzählen.

Nette Kinder! Aber man sieht manchmal und hört oft, wenn diese anders aufwachsen als meine Nichten. Hören in dem Sinn, dass sie schlecht sprechen. Dass sie nicht gut folgen können, wenn man eine Geschichte erzählt. Unruhe ausstrahlen, auch Aggression. Kinder sind es, denen die Enge bei Corona und die Abwesenheit von Aufsicht schlecht bekommen sind. Deren materielle Verhältnisse auf ungesunde Art bescheiden sind. Wo in den Familien ein Nahrungsproblem entsteht, wenn der Kindergarten mit Mittagsbetreuung geschlossen bleibt. Ich stehe da oft und denke: Das kann nicht wahr sein! Darf nicht wahr sein!

Sicher bin ich nicht mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen, aber ich hatte immer satt zu essen – und warm. Was für eine Gesellschaft sind wir, die das zulässt? Ich meine, ein Qualitätsmarker ist der Umgang mit den Schwächeren. Und wir, die wir es ganz gut haben: Wir sind oft mit dem Parkettfußboden und Weißwein beschäftigt, mit Kettenverträgen im Wissenschaftsbetrieb und (late to the party, aber der muss sein): Mit der feministischen Außenpolitik. Ich erzähle von diesen Gedanken meiner kleinen Schwester, der Bauingenieurin. Sie ist wahnsinnig konkret, also fällt ihr sicher direkt was ein. Ein Lösungsansatz und nicht gleich, wie das meine Art wäre, das Konzept an sich. Und ja: Schreibe einen Blogtext darüber, sagt sie. In Deutsch warst Du besser als ich.

Okay, gemacht. Und alle, die ihn gelesen haben, teilen den bitte und überlegen sich was. Danke, von uns beiden. Von Luise und von mir. Papa Bergmann gefällt das natürlich auch, und der kennt sich mit Kindern schließlich bestens aus.

Werbung

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s