Die Episode ist nicht neu; ich erzählte sie vielfach. Womöglich auch hier. Die Episode handelt vom Tag nach der Beerdigung meines Liebsten, der 48 Jahre älter war als ich und der mir einen Roman hinterließ, nämlich die Kleine Oma. An dem Tag also, an einem schwülwarmen Mittwoch Anfang September, fand in Borgholzhausen (9 000 Einwohner, 2 Kirchen, Supermarkt, Handyladen, Tankstelle – westdeutsche Provinz) das statt, was man unter einem Wochenmarkt versteht. Vor der Kirche die traurigen Wagen, die dann zusammenfinden: Fisch, Gemüse, Kartoffeln. Türkische Früchte und Textilien aus Vietnam. Drei Stände, selten vier. Ein paar Häuser weiter Bio-Gemüse, aber auf dem eigenen Grundstück – man spart, wo man kann. In der Buchhandlung, die es in der Nähe auch gibt (aus anderen Gründen) die jüngst durch Tod verlassene Unternehmerin von 37 Jahren. Primzahl, würde der Verblichene sagen. 37 ist eine Primzahl, und jetzt mach was draus.
Innerhalb der Buchhandlung, auf einer Chaiselongue, die beiden Klassenfeinde an den Ausläufern des Horizonts dieser Person. Eine ihrer liebsten Freundinnen links, die Haare rot wie im Klischee, den Körper gewandet in das, was in dem Milieu üblich ist. Und rechts der Papa. Er hält von vielem absolut gar nichts. Feminismus zum Beispiel. Er findet die Grünen doof, er hat was gegen Beamte, er ist auch immer noch unschlüssig, diese Buchhandlung betreffend. Andere Kinder von ihm haben Berufe, die ihm etwas sagen – technisch. Aber die anderen Kinder sind weiter weg, die kann er nicht täglich besuchen. Die anderen Kinder kennen auch keine Menschen, wenigstens nicht in der Zahl, an denen er sich reiben kann. Die Klassenfeinde! Die Brüder mit den langen Haaren und ihre Frauen, mit Henna gefärbt. Er kann sich echt aufregen, und er tut das gern. Fast sportlich. Die jetzt anwesende Lieblingsfreundin findet er besonders interessant. Nie sind sie einer Meinung, und das gefällt ihm ja beinahe. Ich darf das aber nicht weiter erzählen, denn sonst würde man womöglich bemerken, wie tolerant er ist. (Ehrenwort!)
Die Klassenfeinde trinken Filterkaffee, wechseln Satzbausteine, versuchen sich in einem Pseudo-Gefecht. Ich bemerke aber, sie fixieren mich. Sie sorgen sich, dass ich Kummer leide, dass mein Herz gebrochen sei. Das ist es nicht, denn der Liebste ist gut gestorben; geradezu glücklich war er. Ich habe jetzt keine Lust, genau dies zu bereden. Jeweils, ja. Aber nicht mit beiden gemeinsam, Mittwochmorgen bei schwüler Luft in Borgholzhausen. Dann muss ich doch heulen. Ich konzentriere mich auf den Blick durch das Fenster, auf diesen traurigen Markt.
Da ist aber nun mehr Betrieb als für gewöhnlich. Ein Stand, umlagert, von Frauen mit Verhüllung. Lange Gewänder, schwere Schleier. Reichlich Kinder mit schwarzen Köpfen. 2015 liegt kaum zurück; Deutsch spricht noch niemand von den neuen Menschen richtig gut. Ich wundere mich – die jetzt auf dem Wochenmarkt? Was gibt es denn da heute, wohl neuerdings? Die Buchhandlung verlassend, wenige Schritte weiter, entdecke ich den Goldschmied, der nun eine Frau sein wird. Sie hat es mir neulich erzählt, und ich habe sie wirklich bewundert. Es war schon nicht einfach, als heterosexuelle Intellektuelle hier Fuß zu fassen Aber immerhin aus der Gegend, nur halt komisch, da überstudiert (wie man so sagt). Eine Transperson, Donnerwetter. Und diese nun auf dem kleinen Markt, mit Schmuck, an ihrem Stand die muslimischen Frauen: Das haut mich um. Das ist der Augenblick, in dem ich merke, wie gern ich zurzeit in Deutschland bin. In einem Land, wo auf wenigen Quadratmetern dies alles nebeneinander möglich ist.
Ein bleibender Moment, ein kleines Glück am Mittwochmorgen. Ich denke daran oft, besonders in diesem Jahr. Ich halte das Virus für sehr gefährlich, aber ich war auch immer der Meinung, es müsse einzuhegen sein. So scheint es ja nun zu kommen, durch Forschung und Impfstoffe und durch viel Geld vom Staat. Ich bin weiter der Meinung, Deutschland ist weitestgehend sehr gut. Aber Deutschland ist nicht überall so frei wie ich, wie man nun da und dort bemerkt. Diese komischen Kirchen, wo sie meinen, Corona sei eine Verfügung des Allmächtigen. Diese lauten Männer, die sich anmaßen, mit ihren Geräuschen all das Feine zu gefährden, das uns anderen wichtig ist. Die frevelhafte Dummheit, der Aberglaube – sehr viel mehr gefährdet die Gesellschaft gerade als ein Virus, gegen das man sich wird impfen lassen können.
Ich war immer eine Person der Freiheit, aber selten mit solcher Überzeugung wie in diesem Jahr. Bei mir stets, wie in Bernstein abgelegt, das Bild vom Tag nach dem Tag der Beerdigung von Theodor Harder. Ein Moment der Weite und Freiheit, wie er schöner kaum zu erfinden wäre – nur auch noch echt passiert. Dafür lohnt es sich zu streiten, weit über das Virus hinaus. Das ist meine Konsequenz aus diesem Jahr.