Die haben doch Türkisch-Unterricht!

Ich besuchte eine Grundschule, die soziale Gruppen zusammenbrachte, die sonst nicht miteinander verkehrten. Kinder wurden straßenweise Grundschulen zugeordnet, und meine Grundschule bestand aus dem Kern einer alten Ortschaft nebst einigen Bauernschaften. In den letzteren wohnten, der Name sagt es, Bauernfamilien. Zu jeder Bauernschaft gehörten zwei bis drei Straßenzüge mit Spitzdachhäuschen, wo die vierzig Jahre vorher eingetroffenen Flüchtlingsfamilien lebten. Man sagte zu ihnen Heimatvertriebene, und sie arbeiteten in einer Fabrik.

In derselben Fabrik arbeiteten auch Menschen mit schwarzen Haaren und dunkleren Augen. Diese hießen Gastarbeiter und lebten in den alten Häusern der Ortschaft, natürlich zur Miete. Die Kinder der Besitzer hatten sich andere Häuser gebaut, deren Straßen auch zu dieser Grundschule führten. Das waren dann aber schöne neue rote Häuser mit weißen Fugen und tiefen Fenstern. Ein eigenes Kinderzimmer für jede:n, darin ein heller Schreibtisch, dessen Höhe man verstellen konnte. Die Eltern dieser Kinder arbeiteten nur manchmal in einer Fabrik, und dann aber wirklich, wie man sagte, auf dem Büro.

Die Rollen war eindeutig verteilt. Die Mütter aus den Häusern mit den Fugen, also die Bauern- und Vermietertöchter, backten Kuchen für das Klassenfest. Die Mütter vom Bauernhof eher auch, aber die mussten außerdem Obst ernten, den Rasen mähen und drei bis sieben ledige Verwandte betreuen, wozu sie mit viel mit dem Auto herumfuhren. Die anderen Mütter gingen zur Arbeit; die Ärmsten. Es herrschte ständig große Sorge, dass Kinder benachteiligt würden, die nicht um zwölf Uhr dreißig ein warmes Mittagessen erhielten, welches die Mutter selbst oder wenigstens eine Oma zubereitet hatten.

Alle Kinder gingen zum Religionsunterricht. Die meisten hatten Evangelisch, was ich mir nett vorstellte, denn sie malten immer Bilder. Wir hatten in Katholisch eine mürrische alte Frau, die ständig von Schlesien erzählte und die sich wahnsinnig aufregte, weil ich das Kreuzzeichen nicht mit der schönen Hand ausführte. Sie war für das Argument der Linkshändigkeit unzugänglich, und ich neigte meinerseits schon damals nicht zum schnellen Frieden. Ich hatte also Katholisch, um mich im Streit zu erproben. Die Kinder, die dann noch übrig blieben, hatten Türkisch. Ich hielt das auch für eine Religion.

Die Frau, die Türkisch gab, sah aus wie alle anderen Lehrerinnen. Mittellanger Rock mit Falten, Bluse, Weste, Schmuck in Maßen. Sie hatte schwarze Haare, was mir einleuchtete, da die Kinder ihrer Religion auch etwas anders aussahen als ich. Die Türkischlehrerin neigte, das bekam ich irgendwann mit, zum Streit mit Eltern. Sie war gegen das Kopftuch! Ich verstand es nicht und ließ mir zu Hause erklären, dass Türkisch eben keine Religion sei. So einen Eindruck könnten nur gottlose Linke erzeugen, die keinen Glauben achteten. Manche türkische Leute hätten eine Religion, die von den Frauen forderte, ein Kopftuch zu tragen. Wir nähmen das zur Kenntnis, hörte ich zu Hause. Denn gute Katholiken sind tolerant!

Aber die Mädchen?, fragte ich. Haben die auch ein Kopftuch auf? Nee, sagte Mama. Eher nicht. Die sind ja schließlich Kinder. Stimmt, dachte ich. Das türkische Mädchen, das neben mir saß, hatte kein Kopftuch auf. Nur wunderschöne schwarze Haare, lang und glänzend. Ich war heimlich etwas neidisch, aber nicht sehr. Gute Katholiken sind tolerant! Ich traute mich nicht so richtig, das Mädchen zu fragen. Sie war viel größer als ich. Sie hatte im dritten Schuljahr schon Busen, und manchmal konnte sie beim Schwimmunterricht nicht mitmachen. Ich hatte mächtig Respekt vor ihr. Einmal war ich bei ihr zum Geburtstag eingeladen, und boah, war ich nervös. Ich nahm lieber meine kleine Schwester mit.

Wir gingen also in das für uns fremde Haus. Es lag ganz normal in einer Straße, an der wir ständig vorbeifuhren, zum Beispiel auf dem Weg zum Kindergarten. Voll das alte Haus, sehr dunkel. Vielleicht hatten sie sich das aus ihrer Türkei mitgebracht?, überlegte ich. Aber die Heimatvertriebenen hatten neue Häuser gebaut, und die Vermieter von den Gastarbeitern auch. Es musste sich also bei den türkischen Leuten um diese Gastarbeiter handeln. Sehr freundlich von ihnen, die dunklen alten Kästen zu bewohnen, die sonst keiner wollte. Ich schaute mich stark um, ich suchte nach Frauen mit Kopftuch. Jemand fragte, ob ich zur Toilette müsste. Nein, sagte ich, aber wo sind denn jetzt die Frauen mit dem Kopftuch?

Die Mutter von dem Mädchen mit den schönen schwarzen Haaren (kein Kopftuch!) redete irgendwas über Omas. Ok. Meine trug ein Korselett und eine Kittelschürze, die war auch anders angezogen als Mama. Wahrscheinlich trugen türkische Omas ein Kopftuch, und gute Katholiken sind tolerant. Die Mutter brachte Kuchen und süße Brause und lauter andere herrliche Sachen, die bei uns zu Hause verboten waren. Wir aßen Körner und tranken Tee. Manchmal flüchteten wir zu den Heimatvertriebenen nach nebenan, die aus ihrer Fabrik ständig Bonbons brachten. In dieser Fabrik hatten sie so viele Bonbons, dass daraus Bilder geklebt wurden, die in der Sparkasse herumhingen. (Dekoration!) Und wir aßen weiter Körner.

Der Kindergeburtstag in dem dunklen Haus war schon mal insofern super, als dass sie dort kein Problem mit Süßigkeiten hatten. Aber vielleicht mit blonden Kindern? Ich sah mich um. Luise und ich, weizenblond. Die anderen, schwarz wie die Nacht. Ich fragte die Mutter, ob sie was gegen blonde Kinder hätte. Nee, sagte sie. Aber die anderen Kindern kommen nicht, wenn wir sie einladen. Sie klang traurig. Später erzählte ich das beim Abendbrot, und meine Mutter stimmte dem zu. Sie hatte sich bei den Kuchenbackmüttern ziemlich unmöglich gemacht, als sie uns zu diesem Geburtstag brachte. Also waren sie nicht katholisch, überlegte ich. Papa mischte sich ein, was bei Kinderthemen unüblich war.

Engstirnig, sagte Papa. Kleinlich. Wir müssen ein Zeichen setzen. Zum nächsten Kindergeburtstag geht ihr alle vier. Das ist dann eine Demonstration. Wir warteten ab, ob er das womöglich wieder vergaß, denn wir hatten nicht soviel Lust, mit unseren Brüdern irgendwo hinzugehen. Die waren noch fast Babys, was bedeutete, Mama würde sie nicht alleine lassen. Und dann dürften wir keine Süßigkeiten essen, Luise und ich. Leider vergaß er das überhaupt nicht, was ich mir aber auch hätte denken können. Wir fuhren also eine Weile später zu viert dahin, mit Mama, und verbrachten einen sehr netten Nachmittag. Wir durften sogar Bonbons essen, was mir zeigte, es ging hier echt um was Höheres. Gute Katholiken sind tolerant!

Aber das Mädchen, das schon Busen hatte: Die war weg. Umgezogen, angeblich in diese Türkei. Vielleicht könnten wir mal hinfahren, überlegten wir. Hätte uns schon interessiert, Luise und mich. Wir nervten unsere Mutter eine Weile damit, Briefmarken zu kaufen, die bis dahin reichten, wo das Mädchen mit den schwarzen Haaren jetzt wohnte. Papa sagte eines Abends, die haben sie verheiratet! Ich habe Leute gefragt, die Leute kennen, auch aus dieser Fabrik. Und die haben ernsthaft das Kind verheiratet. Irgendwo ist auch mal Schluss mit dieser Toleranz; Thema durch. Ich erzählte das natürlich im Unterricht. Die evangelische Lehrerin und die katholische Lehrerin sagten, das geht jetzt zu weit.

Die türkische Lehrerin sagte, er hat Recht.

Und dann passierte nichts. Das Leben ging weiter. Sehr viele Jahre später, ich war beinahe vierzig, stand eine junge Frau hier in der Buchhandlung. Hoch gewachsen, lange schwarze Haare, elegant gekleidet. Bisschen bunter als ich, sehr viel Schminke. Eine selbstbewusste Person, die von ihrer Ausbildung zur Lohnbuchhalterin berichtete. Stolz, im Guten. Sie bestellte von ihrer Mutter Grüße. Sie selbst ist vier Jahre nach diesem Kindergeburtstag geboren worden, an dem ich im Alter von neun Jahren teilgenommen hatte.

Keine Pointe.

Wenn ich gute Laune habe, denke ich, ok, die Integration klappt heute besser als 1988. Wenn ich schlechte Laune habe, verkaufe ich einer der Kuchenmütter von damals ein echt langweiliges Buch. Es hätten mehr Eltern mehr wagen können.

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