Jahre sind wie Kleider

Was für ein aufregendes Jahr bei dir, meinten einige Personen, die ich mag. Ich sagte, na ja. Gab schon schlechtere, in der emotionalen Buchführung. 2022 fand ich echt aufreibend, denn da musste ich viel pflegen, mich eines Vermieters erwehren, auch juristisch ein paar blöde Sachen erledigen. 2023 habe ich aufgeräumt. Ich habe aus der alten Buchhandlung in Borgholzhausen 100 schwere Kisten geschleppt, dazu noch einige Kartons. Eine ganze Menge – besonders dafür, dass ich mal mit nichts und einem Gründerdarlehn angetreten war. Ein Drittel der Kisten fuhr mit nach Rietberg in die neue Buchhandlung, der Rest steht noch bei mir zu Hause. Das ist nämlich die Arbeitsbibliothek der Schriftstellerin, die ich geworden bin. Es war immer soviel los, dass ich nicht anders konnte, als es aufzuschreiben.

Herrliche Zeiten. Unschuldig, von heute betrachtet. Lustige Episoden mit dem Quatschkopf ein paar Türen weiter. Dazwischen ein freundlicher alter Mann mit stets akkurat rot gefärbten Haaren – Schnurrbartspitzen auch. Als er weiß zu werden begann, weil die Kosmetik nicht mehr klappte, wusste ich im Grunde: Zeit zu gehen. Ich hatte ihm einmal versprochen, ich bleibe, solange Du hier bist, denn er gab mir den Schlüssel zu seinem Haus, als niemand sonst das getan hätte. Ich höre bis heute seine für einen kleinen Mann erstaunlich tiefe Stimme: „Nur Vertrauen“, sagte er, als ich mich zu erklären begann, die damals wirklich junge Frau mit nicht viel mehr als einem roten Anorak. Und ein paar Jahre später, nach den ersten Gefechten mit der Realität: „Kämpfen kannst Du ja.“

Dabei waren das einfach Konflikte des Geschäftslebens, noch keine für mich erheblichen. Die kamen erst, als ich mir eine Familie suchte, die so ganz anders ist als meine ursprüngliche. „Der mag dich aber gern“, fand der freundliche alte Mann, als Heinrich die Buchhandlung aufzusuchen begann. Er hielt sich sonst raus, aber Heinrich gefiel ihm. Und die Kleine Oma erst! Ich sehe sie auf dem Ledersofa vor dem Fernseher in der Freistraße sitzen, wie auf einem tiefschwarzen Meer zwei kleine Boote mit blinkenden Augen. Er hat mir nie erzählt, was sie schauten, während ich nebenan zu schreiben begann. Vielleicht ein Kaminfeuer, das nie verlosch. Sie waren beide Außenseiter, und die haben es in der ländlichen Gesellschaft nicht einfach. Sowas verbindet.

Konnte ich sie schützen, wie ich das für meine Aufgabe hielt? Martha ganz unbedingt. Die Kleine Oma ist 2023 gestorben. Im eigenen Bett, das schon ein paar Jahre nicht mehr bei mir stand, aber schön und ohne Leiden. Sie hatte es dort gut und ist da auch begraben. Nicht bei Heinrich. Denn er blieb damals bei mir, und ich habe meine Wurzeln. Keine Außenseiterin, keine Stigmatisierte; nichts an mir, was wirklich ungewöhnlich wäre. Über den freundlichen Mann mit den vormals roten Haaren hätte ich auch gern die Hand gehalten, aber da waren andere vor. Diese Besessenheit der Kleingeister, die Menschen mit den seltenen Biografien auf ihren letzten Metern doch noch anzupassen: Furchtbar! Wenn dann noch Geld im Spiel ist, vergessen sie einfach alle Manieren, so dass man sich nur schämen kann.

Aber das sind nun die Geister von gestern. Was kommt im neuen Jahr? Das Übliche, würde ich sagen. Viel und bunt und immer weiter. Das ist mein Versprechen an euch alle, auch Zweitausendvierundzwanzig. Ach so, die Überschrift: Einer meiner wirklich guten Freunde beobachtete richtig, dass ich die Garderobe ausgetauscht habe. Kleider mit Blümchen statt der eher strengen Anmutung in Borgholzhausen anfangs und auch anstelle der super praktischen Alltagstextilien während vieler Jahre mit alten Menschen im Haus. Ganz einfach: Ich bin ja nun eine Schriftstellerin, und dann kann ich mich auch mal so anziehen wie das Klischee es will. Blümchenkleid! Aber kein Tee am Kamin; immer noch Filterkaffee am Computer. Man kann anders gewandet sich selber treu bleiben. Kein Problem.

Briefe von Fangirls in alter Schrift

Die Überschrift deutet es an; hier mussten Brücken gebaut werden. Es mangelte aber nicht an Energie und Ausdauer. Meine ersten Kundinnen stellten Schriftmeldungen zu, sobald ich als Autorin ein bisschen sichtbar wurde. Allein, ich konnte sie nicht lesen. Alte Schrift! Bei den Namen und Adressen ging es noch, und wirklich, ich kannte sie alle. Ich war da nämlich zu Fuß immer hingegangen, im Rahmen von Botendiensten während meiner ersten Arbeit. Sie hatten dort, in dieser Buchhandlung, natürlich eine junge Frau. Aber die ersten Kundinnen mochten sie nicht. Die waren Freundinnen der Schwiegermutter der jungen Frau, und um dieses Binnenverhältnis war es ungünstig bestellt.

Ich war das Fräulein, welches manchmal eingesetzt wurde, und tatsächlich störte mich die Bezeichnung längere Zeit nicht. Ich bewegte mich als Fräulein zu den Freundinnen der Schwiegermutter und stellte die Fernsehzeitung zu. Kalender, den Autoatlas, manchmal auch Lieferungen, die eingeschlagen waren. Ein minderjähriges Fräulein mit strengen Eltern und die gewisse Libertinage der besseren Stände. Irgendjemand war stets so freundlich, bestimmte Artikel für meine Augen unsichtbar zu halten. (Wir befinden uns, dies nebenbei, nicht im Jahre 57. Aber die eine oder andere war dort aufs Angenehmste stehengeblieben.)

Die ersten Kundinnen verharrten in den geistigen Zuständen der frühen Bundesrepublik, während ich kein Fräulein mehr sein wollte, alle Mögliche und manches Unmögliche unternahm. Sie waren trotzdem da. Ich kann gar nicht sagen, warum ich mir dessen so sicher war, aber es erstaunte mich kaum, von ihnen Briefe zu erhalten, als ich sicht- und lesbar wurde. Manche bestickten Karten, andere häkelten Elemente, mit denen man die Handgelenke wärmt, denn sie stellten sich Schreiben als eine frostige Angelegenheit vor. Sie archivierten auch alles, was im Haller Kreisblatt und anderswo von mir erschien. Manchmal bekomme ich beim Tod so eine Sammlung von den Kindern angeboten.

Neulich ist eins der Fangirls gestorben. Sie war 94 und selbst der Meinung, jetzt ist es gut gewesen. Neben den gewohnten Schnipseln habe ich einen sehr teuren, unheimlich leistungsstarken Staubsauger geerbt. Er war neu. Sie wusste, ich bin in vielen Sachen gut. Aber Ordnung – geht so. Also der beste Staubsauger, welcher für mehrere hundert Euro in Borgholzhausen aufzutreiben war. Die gewohnte Sammlung. Auch Anstreichungen. Querverweise. Ein separater Karton, in dem sie für mich verwahrt hat, was ich wohl gebrauchen könnte, um über sie etwas zu schreiben. Denn Pustekuchen, als ob sie immer nur die ältere Generation gewesen ist. Auch Margarete war mal jung!

Als ich sie kennenlernte (Zustellung der Durchschreibbögen für die Maschine, an der sie die Karteikarten der Blutspende verfertigte), war sie etwas über sechzig und modisch mittelbeige. In mutigen Momenten mit ein wenig Orange oder Holzperlen. Richtig flott mochte sie nicht mehr sein, seit die Liebe im Wellenbad geblieben war. Das passte zu ihm, denn sie war fürs große Kino geboren, während er gern vor dem Fernseher schlief. Er arbeitete für drei, um all das zu erschaffen, von nichts, was er Margarete bieten wollte. Dabei kamen keine Kinder, aber das behinderte die Innigkeit wohl nicht. Dass er ging, kaum dass sie sechzig war? Damit hatte sie zu tun und blieb bei hell- bis mittelbeige. Keiner nach ihm.

Das Drittel Leben, das wir gemeinsam verbrachten, Margarete und ich, war für sie ein freundliches. Sie sprach über ihn nur gut, aber manchmal schwieg sie. Und mit den Jahren hörte ich den Leerstellen ab, was anders besser gewesen wäre. Dabei ging es nicht um Geld. Auch nicht um ihren Platz in der Kleinstadthierarchie. Sie lief, gleichwohl mit Ehenamen Ostvertriebene, zusätzlich kinderlos und ausgesprochen gern berufstätig, in ihrer eigenen Schleife. Keiner wagte, über sie zu spotten, denn es stand dran, die wehrt sich. Ich wusste anfangs nicht, woher sie das nahm. Aber natürlich: Die gute Herkunft. Wie sie servieren und sich geben lassen; daran sieht man es ein Leben lang.

Ob sie gern mehr gelernt hätte, fragte ich einmal. Oft sind die alten Frauen ärgerlich, weil sie nicht soviel Bildung haben konnten. Es kostete ja Geld, und mehr als ein Steno-Kurs war meist nicht drin. Sie winkte ab. Was sie wissen wollte, hat sie sich selber angelesen. Und man unternahm Fahrten. Im Wagen, im eigenen Wagen. Später, verwitwet, im Bus. Damit war sie einverstanden und zufrieden. Was denn dann? Margarete, wollte ich von ihr wissen, auf den letzten Metern, als ich schon rufen musste. Schwerhörig, aber manchmal tat sie auch so, als verstünde sie mich nicht. Das habe ich immer gesehen. Also, liebe Margarete: Was war schlecht?

Sie holte Luft. „Wir haben so gern gearbeitet, und so viel. Dabei noch gekocht und geputzt und es den Gästen recht gemacht.“ „Aber?“ Sie grinste. Ich glaube, da hat sie sich das mit dem Staubsauger ausgedacht. „Also“, meinte die liebe Margarete. „Was mir wirklich nicht gefällt. Wir sind beinahe vergessen. Wir kommen nicht im Haller Kreisblatt vor. Du schon, und deswegen sind wir natürlich alle deine – wie heißt das nochmal?“ „Fans“, meinte ich. „Fangirls.“ „Nein, das andere Wort.“ Ich überlegte. „Feministinnen?“ Sie nickte. „Wir sind natürlich sehr stolz, dass Frauen heute besser gesehen werden. Aber unser Leben war anders, wegen der Zeiten. Ich wollte immer schon mal, dass das jemand laut und deutlich sagt.“

Ich genüge hiermit meiner Chronistinnenpflicht und teile mit, die anbetungswürdige Margarete und ihre Altersgenossinnen, meine längsten und treuesten Fans: Sie sind die Besten. Jede einzelne verdient natürlich den Roman ihres Lebens. Ich werde ganz bestimmt dafür sorgen, dass nichts verloren geht.

Höhere Daseinsformen

Ich bin Corona-Gewinnerin. Das klingt nach Kriegsgewinnlerin und also nicht schön. Ich bin aber wirklich eine Corona-Gewinnerin, denn ich konnte mich das erste Mal in meinem Leben gründlich ausruhen. Das Schicksal wollte mir, dass eine gewisse Oma gerade noch rechtzeitig vor Lockdown eins ins Altersheim umgezogen war. Als Leser*in ahnen Sie: Die wechselte nicht ohne Widerstand. Denn inhouse bei mir ist komfortabel. Es gibt immer gut zu was zu essen, ich bin auch eher ganz nett und nerve nicht weiter herum, solange man als Oma (Nichte, Neffe, Gast; Mann) bestimmte Grundregeln einhält.

Vor allem: Nicht bei der Arbeit stören. Wenn sie ein Buch (einen Artikel, Kommentar, Briefe) schreibt, echt nicht verlangen, dass sie für den Beiratskreis der Seniorenvertretung (Kinderversammlung, Sportverein, Schützenbrüder, Parteitag) Kuchen backt. Sie schreibt von Berufs wegen; kein Hobby.

Die Oma hatte nicht verstanden, wieso sie ins Heim umziehen muss. Denn wirklich, in einem ist sie unerreicht. Sie störte nie beim Schreiben. Mit erprobtem Anmut räkelte sie in der Abendsonne, wand sich in den Korbmöbeln, lagerte an ihrer Katze, bis sie fast eins waren, wenn ich was fertigbringen musste. Die Intuition wird immer noch stärker, je mehr der Verstand schwindet. Sie brachte sich aber selbst in Gefahr, und deshalb zog sie um.

Ich war, das erste Mal seit sieben Jahren, für länger als eine Nacht allein. Konnte schlafen und wachen, wie ich wollte. Essen, was mir gefiel. Spaghetti! Eins der wenigen Gerichte, die mit alten Menschen nicht funktionieren, sind nämlich Spaghetti. Die verhaken im Kiefer, schieben sich auch zwischen Prothesen, und die Logistik ist mit alten Fingern nicht mehr optimal. Ich schlief also reichlich, verzehrte Spaghetti, musste mir ums Geld gerade keine Gedanken machen. Der erste Lockdown tat mir ausnahmslos gut. Dann kam ein schöner Sommer, und dann ging es leider wieder los.

Ich war nun ausgeruht und merkte, die zweite wunde Stelle begann durchzuscheuern. Es könnte langweilig werden. Es könnte sein, ich müsste mich langweilen. Direkt vorbeugen; so geht es nicht. Nie langweilen! Es schien mir der geeignete Zeitpunkt, ein wenig zu studieren. Denn Corona nutzte nicht nur der übermüdeten Buchhändlerin. Corona leistete auch der Digitalisierung zu. Ich kaufte mir eine kleine Kamera und Kopfhörer und belegte alles, was ich immer schon mal lernen wollte. Anfangs Uni Bielefeld, klar. Aber schnell auch Kacheln bei Zoom, die sich Berlin oder Amerika nannten.

Reine Neugier: Was macht denn der, den ich damals so schlau fand? Und jene, mit der ich dieses Referat gehalten hatte, auf Englisch? Waren wir aufgeregt! Bücher gab es auch, alle möglichen Herrlichkeiten frei zugänglich als PDF. Der Buchhändlerin hätte das Herz bluten müssen, aber als Nerd war es ein Paradies. Einfach mal alles durchprobieren, was inzwischen theoretisch modisch war.

Zu einem meiner Brüder sagte ich neulich, die Triumphe waren nicht Titel oder Geld. Die schiere Genugtuung bestand im Überholvorgang. Sich ausruhen, aufholen und schließlich seitlich dran vorübergehen. Und woran? Am Durchschnitt mit Abitur! Ich hatte eine Dekade unter anderen verbracht. Unter Pflegedienstleitern, Baugehilfen, Berufs- und ehrenamtlichen Betreuerinnen, Fußpflegerinnen, Tankwarten, Frauen am Spargelstand und, natürlich, neben dem besten Handyverkäufer der Welt. Welcher, gleich der Oma, eigentlich weiß, er soll nicht beim Schreiben stören. Der Rest ist kein Problem.

Zwischen meinen Lustbarkeiten fürs Gehirn war immer Alltag. Ich musste raus auf die Straße, rein in den Supermarkt. Verzeichnete, wie die Menschen reizbar wurden, sich stritten, sich teils auch politisch verirrten. Ich sah, wem die Bank kein Geld mehr gab. Registrierte die vielen leeren Weinflaschen auf und neben den Containern. Transportiert die niemand ab? Doch, schon. Aber im selben Rhythmus wie zuvor. Es waren einfach viel mehr Flaschen. Sah die Trainingshosen und Leggings; ich sah die Körper wachsen. Ich nahm auch zu, aber um eine Größe. Das ist nicht so gefährlich und geht wieder weg. Also, ich sah ziemlich viel, was mir nicht gut gefiel, wenn ich das Nerd-Paradies bei Zoom verließ für frische Luft. Legte die Bilder beiseite; Wiedervorlage irgendwann.

Ich glaube, der Zeitpunkt ist jetzt. Denn der Sommer war groß. Es hat natürlich viel geregnet, aber die Sonne schien genug. Würstchen konnten in wunschgemäßer Anzahl verzehrt werden, alle Sommer-, Schützen- und Freibadfeste wurden durchgeführt. Ich habe keinen einzigen Kuchen gebacken, sehr viel geschrieben, durch den Umzug mit 100 Bücherkisten auch den letzten Rest Corona-Speck bezwungen. Die blauen Flecke auf den Oberschenkeln heilen ab. Wenn man so eine Kiste stemmt, geht das nämlich besser in Etappen. Fußboden, Oberschenkel, Hüfte, Umzugswagen. Der Sommer war groß, wenigstens bei mir. Ich habe aber wieder viel gesehen, auch viel gehört, was mir nicht gefällt. Gezeter, rüde Worte, Beleidigungen. Oft wegen nichts. In Borgholzhausen noch; Gepöbel von Personen, die als Kunden die letzten fünf Jahre nicht (oder nie) in Erscheinung getreten sind. Aber jetzt sich aufregen, dass alles verfällt.

Als wäre ich der Standort selbst. Was für ein Quatsch. Und vielleicht doch ein Sinnbild dafür, dass Corona Menschen abgehängt hat. Egal, ob in echt oder gefühlt. Alles zuviel, zu anders, zu teuer. Die kommen nicht klar und regen sich auf. Über die da oben, solche wie mich. Einfach weiter am Bildschirm kleben, und was macht der kleine Mann? Steht da und möchte schreien. Brüllt erstmal Lotti an, zu Hause. Dann die im Bücherladen, die studierte Schlampe. Höhere Menschen sind das doch, und dann können die ja auch wohl mal gefälligst! Pöh! Wenn die nicht mal wirklich da, diese. Nee, also dann zeig ich denen aber mal, wo die Glocken hängen. Bierchen, ach, und schau. Da gibt’s ja doch noch welche. Dass die blöde Bücherschlampe immer schon was gegen solche welchen hatte, die wo auch mal für Recht und Ordnung sorgen. Steht bei der ja dran. Kein Verlass da drauf.

Oh, aber und wie. Ich bin nach vielen Jahren unter anderen sehr wohl noch immer mit den Beinen an der Erde. Ich habe auch die Augen im Alltag, auf der Straße. Gehirngebrauch ist bei mir nicht das Vorrecht der höheren Daseinsform. Ich finde allerdings auch, die vielen Studierten und Digitalen und Besserbezahlten machen es sich etwas einfach. Kommt mal raus den Kacheln und kümmert euch. Sonst tun das welche, die wir alle überhaupt nicht möchten. Nämlich die von außen rechts.

Wie war die Welt, in die wir gehen?

Ich räume in Schachteln, das Pressearchiv. Ordentliche Kulturschaffende haben vermutlich Datenbanken, in denen sie ihre Wichtigkeit verwalten. Ich hingegen besitze eine Schachtel mit sehr viel vergilbtem Haller Kreisblatt. Ganz unten, da, wo bald der Brösel einsetzt, liegen Artikel aus der Zeit vor der Buchhandlung. Tatsächlich, ich hatte ein Leben vor Borgholzhausen. Denn ich war schon über dreißig, als ich hier erschien. Beschäftigungen vorher: Zahlreich, aber nicht ziellos. Und sowieso immer mit Büchern.

In dem Sommer, als ich begann, im Haller Kreisblatt Erwähnung zu finden, war auch ein Kulturkampf, tja – Ich möchte sagen, da wir uns in Ostwestfalen befinden: War in der Durchführung. Migrationshintergrund, Transfergeld, Leitkultur. Nichts anderes als heute. Ich kam aus einer großen Stadt, von wo ich andere Haare, dunkle Augen, laute Musik und scharfes Essen kannte. Zuerst begriff ich nicht, worin denn nun der Stress bestand. Denn Ostwestfalen ist eine Migrationserscheinung, bis zu der Bezeichnung selbst.

Die Region hieß früher Minden-Ravensberg, eine Verwaltungseinheit von Preußen im Westen. Ostwestfalen wurde sie erst, als ein Krieg verloren und ein Genozid verübt worden waren. Millionen Menschen mussten Osteuropa verlassen und landeten dort, wo nicht alles kaputt war. Zum Beispiel in Borgholzhauen, Halle, Werther. Freundliche Städtchen, die mental noch im 19. Jahrhundert wurzelten und wo die Leute teils echt viel zu eng verwandt waren. Das geht aufs Gehirn!

Also Ostwestfalen, 2 Millionen Menschen, von denen viele Migrationshintergrund haben. Bei manchen sieht man das, bei anderen nicht. Es ist trotzdem etwas Gewusstes, der klassische Habitus nach Bourdieu. Aber ist er so wichtig? Als ich jünger war, meinte ich, nein. Schönes Land, die gute Ausbildung kostet kein Geld, und es ist sozial ziemlich durchlässig. Man kann was aus sich machen. Wenn man machen möchte, dann ja. Wenn nein, geht man eben arbeiten bei Miele oder Bertelsmann. Ist auch nicht verwerflich.

Natürlich wollte ich machen. Logisch! Tätigkeit ist wichtig! Ich hatte damals, in diesem Sommer, beschlossen, selbständig zu sein und nahm all die Termine wahr, die man dann eben hat. Existenzgründungsberatung, Banken, die IHK. An Deutschland hat mir immer schon gefallen, dass es Ansprechpartner gibt. Manchmal muss man sie suchen, und es geht nicht jedes Mal schnell oder auch nur geradeaus. Aber Deutschland stellt Kontaktpersonen zur Verfügung; immer.

Was ich damals wahrnahm, optisch: Die anderen jungen Leute in den Stuhlreihen und Sitzkreisen sahen nicht aus wie ich. Die waren sich auch untereinander nicht besonders ähnlich, aber alle anders als ich. Sieht man das Abitur, die gute Ausbildung? Ja und nein. Man sieht auch nicht direkt die Studienjahre, die Auslandserfahrung, all das Herrliche und Nützliche, das man in Deutschland haben kann, wenn man passend geboren ist. Aber man sieht es an den Körpern und, wichtiger, man hört die Sprache.

Metaphern sind hier wichtig, gemeinsame Erfahrungen, die zu Bildern gerinnen. Weltspartag! Fest rund um die Kirche! Anna Ballerina! Wenn einem sonst nichts mehr einfällt – kleiner Austausch über die Weihnachtsserie im ZDF geht immer. Und warst Du etwa Schlüsselkind? Oh nein, dann musste deine Mutter arbeiten? Die fuhr nicht mit dir zum Kinderturnen? Und Oma, hier: Omma? Nach Omma hin, denn Omma hält nichts von dieser Vollwertküche. Der Dosenpfirsich und ihr Soßenbinder sind bewährte Kräfte.

Der Sommer mit der Existenzgründung, einem Stadtfest, vielen bunten Menschen und, am Ende, der Entscheidung, Halle in Westfalen zu verlassen, lehrte mich vielleicht das Meiste in kürzester Zeit. Ein Brühwürfel, über den ich in Gedanken manchmal Wasser schütte. Lange beschäftigte mich die Einsicht, dass Gleichberechtigung hier ein Aufkleber ist, eine Prilblume, die man aber lieber wieder abknibbelt. Nichts, was grundsätzlich einleuchtet. Aber das ist ein anderer Text; das ist mein nächster Roman.

Der andere Extrakt: Der eine Satz, den ich zu oft gehört habe, als dass er zufällig sein könnte. Er lautet, in unterschiedlichen Formulierungen, aber semantisch immer gleich: Wie war die Welt, in die wir gehen? Erzähle mir von Abendbrot und Früchtetee. Taubenzucht, Kaninchen, Kinderbibelwoche, Ferienkind. Omma, die im Takt der Hausaufgaben Strümpfe strickt und ehrlich behauptet, dass sie nicht merkt, wenn wir beim Kartenspielen mogeln. Erzähle mir, denn ich möchte dazugehören. Wirklich!

Erzähle mir von Westdeutschland, so wie es war. Und oh, da gibt es viel zu reden. Denn es war gut und schlecht und vielfältig. Tolerant halt nicht, aber zum Glück sind all die Menschen da, die nicht so aufgewachsen sind wie ich. Das erste Foto im Haller Kreisblatt zeigt mich selbst inmitten schwarzer Köpfe, wie mein Vater sagt. Er fand das gut. Zu eng verwandt geht aufs Gehirn. Wir freuen wir uns in der Mitte der Gesellschaft über die vielen anderen. Herzlich Willkommen in OWL!

Wem gehört die Literatur?

Die Frage ist vorderhändig einfach zu beantworten, denn Texte sind urheberrechtlich geschützt. Es gibt die Verfasser:innen und deren Nachfahren, bis 70 Jahre nach dem Tod. Sie schließen Verlagsverträge, erhalten Geld, tun dies und das und manchmal nichts. Leicht. Dann die weiteren Beteiligten am Buchmarkt; Akteure in Verlagen, Buchhandlungen, in den Agenturen und Redaktionen. Die machen irgendwas mit Büchern, weil das ihr Job ist und sie dafür beschäftigt werden oder Rechnungen schreiben. Dann sind sie selbständig, wie die Autor:innen. Denen gehört die Literatur nicht, aber sie sind immerhin Expert:innen und als solche im erfreulicheren Fall professionell. Also nicht immer; mal so, mal so. Auch das versteht sich jedenfalls.

Schließlich ein Phänomen, das überhaupt nicht neu ist, aber lange nicht beredet wurde. Oder doch? Und ich habe es nur nicht mitbekommen, denn ich befinde mich in dieser Buchhandlung, deren Status als Verkaufsort ich den 13. Winter gegen andere Ansinnen verteidigt habe. Nämlich: Therapeutische Anlaufstelle, Gastklo, Depot für Amazon-Pakete und manches mehr. Ich bin energisch, und insofern ist der Buchverkauf hier immer noch Geschäftsfeld Nummer 1. Außerdem mache ich das schon eine lange Weile und unterstelle mir selbst, zu den Expertinnen zu zählen. Nicht gegendert. Ich war bereits als Schülerin Expertin und bin das stets geblieben. Der Schlüssel: Lektüre! Wenn man lange dabei ist (das dritte Jahrzehnt fast voll; Wahnsinn), hat man allerlei gelesen.

Und das ist die richtig interessante Frage: Wem gehört im weiteren Sinn die Literatur? Wer ist deutungsleitend, hoheitlich, wer hat zu sagen, was man liest? Ich begann zu Zeiten, als Fernsehsendungen ganze Auflagen verkauften. Elke Heidenreich übrigens immer, stets, ewig, mehr als die Herren in den Ledersesseln. Was nicht daran lag, dass die letzteren manchmal komische Empfehlungen gaben. Machen alle, ich auch, ständig. Aber Elke Heidenreich und ein paar Damen taten damals schon, was heute jeder macht. Sie rieten zu. Leseförderung durch Nachdruck, was ich mir von ihnen (spätpubertäres Blubbern manchmal hin oder her) auch immer gefallen ließ. Sie wussten nämlich Bescheid. Heute raten auch ständig Leute zu oder ab, bei denen ich mir allmählich unsicher werde.

Jetzt nicht die Kolleg:innen im Buchhandel, die Redakteur:innen, Herausgeber:innen; Betriebspersonen. Ich staune und bin erfreut, welchen Kulturwandel im Beredungswesen Corona uns gegeben hat. Die Pandemie war blöd, Zoom aber prima. Auch Insta-Live und bestimmt noch Tik Tok. Muss ich erst ausprobieren. Kleine Filme mit echten Menschen mögen jedenfalls auch die Kund:innen und ihre Buchhändlerin hier in Ostwestfalen. Zur Sicherheit, dass wir erreichbar sind, wurden den ganzen Winter über so viele Kabel verlegt, als bekämen wir demnächst einen Virgin Megastore oder wenigstens Dussmann Quadrat nach Borgholzhausen. Und während ich das schreibe, beantworte ich mir die Eingangsfrage selbst: Die Literatur gehört nämlich nicht mehr. Sie ist.

Die Literatur gehört nicht mehr den Lehrer:innen vom Gymnasium, die mit spitzen Mündern raunten, den neuen Sowieso (Leinen mit Lesebändchen bei mindestens C. H. Beck) müsste man gelesen haben, während ich mir überlegte, boah nee, dafür muss ich einen halben Tag arbeiten. Dafür?! Sie gehört genauso wenig noch den Alternativen, wie sie sich selber nannten. Lacan, Foucault und Derrida. Gedichte von Frauen, die mit Arbeitern oder zwischen Traktoren oder: Was weiß ich. Also die lektürehabituelle Gewandung der Ausläufer von 68. Man musste mit denen immer einigermaßen höflich sein, weil sie eine Menge Geld für das heilige stw ausgaben, während ich bei Berte Bratt feststeckte. Sie sind heute Mumien. Lustiger als die Lehrer:innen von früher; Alternative vergreisen gern schalkhaft. Aber mumifiziert.

Es fallen mir noch mehr Gruppen ein, denen die Literatur einmal gehörte. Männer, die sich für Mosebach-Jünger-Carl Schmitt erwärmen. Freunde der Anakreontik und von Loriot. Viele viele Beispiele. Aber schon wieder öffnet sich die Tür. Jugendliche mit schwarzen Haaren, anders klingende Namensträger:innen, Frauen mit etwas Kopftuch oder viel Schmuck und Absatz und Schminke. Familien mit Religionen, na ja. Ok. Verkehrtgläubig ist immer noch besser als gottlos. Personenkreise jedenfalls, für deren Lesebedürfnisse die Buchhandlung neuerdings hinreicht. Und die auch eben Bücher möchten, die wir liefern können. Keine Raubkopien, Heimlichauflagen, kein Spezialversenderkatalogskrempel.

Die Themen der vielen sind in den Katalogen der Publikumsverlage angekommen. Es wurde auch Zeit. Und die paar Personen, denen das einfach nicht gefällt – die dürfen weiter ihre Insel- und Reclambände haben. Die Literatur gehört in einer offenen Gesellschaft niemandem allein; selbst nicht der Generation Z.

Wie erfreulich!

Die kleinen Schwestern, 40 Jahre später

Einer der meistgeliebten Texte auf diesem Blog handelt von meiner Schwester und mir, vor nicht ganz vierzig Jahren in Ascheloh im Wald. Wenn Sie auswärtig lesend sind: Das ist zwischen Halle und Künsebeck, an der Bundesstraße links rein. Teichstraße, weil rechter Hand Fischteiche sind. Links wenige Häuser, teils saniert. Die jedenfalls zum Ende, und an der Gabelung rechts hoch in den Ascheloher Weg. Wir lebten dort in einem Haus, das unsere Eltern sich gekauft hatten. Garten, Schaukel, Spielplatz, Wald – Kulisse der Achtziger Jahre, wenn man eine westdeutsche Familie mit Berufshintergrund war. Nicht ungelernte Industriearbeit, aber auch kein akademischer Hintergrund. Normal, möchte ich sagen.

Anders, sagten die Leute schon damals über uns. Die sind irgendwie anders. Waren wir das? Ich meine, nein. Grundsätzlich waren wir eben nicht anders oder gar Alternative, so die selbstgefällige Metapher arbeitsloser Akademiker. Wir aßen Butterbrot, fuhren Schulbus, durften nicht andauernd Fernsehen und nutzten unsere Tornister, bis sie wirklich kaputt gegangen waren. Anders war vielleicht, dass wir uns gesund ernährten, weil das für wichtig angesehen wurde. Anders war auch unsere Sozialisation in der katholischen Kirche. Aber das liegt an der Gegend. Wer hier glaubt, gehört eher zu denen, die wir Verkehrtgläubige nennen.

Bei uns war wichtig, dass man zur Schule ging, dem Unterricht folgte und nach erledigtem Aufenthalt von zehn oder auch dreizehn Jahren freiwillig das Weite suchte. Wir wurden nicht ausquartiert, hatten aber gelernt, dass Bildung unser Weg sein sollte. Bimbes, ein weiteres albernes Wort der Epoche, würde sich daraus ergeben. Kein Wert an sich, verstanden? Ob wir es damals ermessen konnten, bezweifle ich. Die häuslichen Verhältnisse waren jedenfalls so, dass wir uns fügten. Wenn Papa uns die Welt verordnete, begaben wir uns dort hinein. Wir fanden den gut, und deswegen machten wir ungefähr das, was er wollte. Die eine mehr, die andere weniger. Etwas Widerstand liegt in den Genen, wenigstens bei mir.

Wir wurden ganz gut erwachsen in dieser Gegend, in diesem Land. Was ich zu beklagen hätte, verläuft sich je mehr, desto älter ich werde. Gerecht, ungerecht? Ich höre Menschen meiner Generation oft Ungerechtigkeit bereden, sich ihrer eigenen Privilegiertheit schämen oder (im Gegenteil) klagen, über diese nicht verfügt zu haben. Gemeint ist hier oft Geld, in nachgedachten Fällen auch Symbolkapital. Aber hatte ich es schlechter, weil ich ohne Klavierstunde groß geworden bin? Was für ein Unsinn. Ich hatte es gut, denn ich wurde nicht geschlagen. Das war in dieser Zeit noch keine Selbstverständlichkeit. Es gab auch keinen Unterschied zwischen Schwestern und Brüdern. Nie hörte ich: Du heiratest doch später sowieso. Nimm dich nicht so wichtig. Zieh den Bauch ein. Mach mal Kaffee, putz das Klo.

Ich hatte vor sehr allgemein konservativem Hintergrund eine liberale Kindheit, und die Umgebung war Wald. Dorf, Kleinstadt. Nicht Hochhaus, keine Metropole. Leute wie ich meinen häufig, das sei normal. Gegeben. Unser Veränderungsdrang hält sich sozial wie räumlich absolut in Grenzen. Es ist soweit in Ordnung, und der Rest: Privat. Tür zu, Privatleben. Ist doch wohl klar, dass Kinder nicht geschlagen werden, dass denen bei den Hausaufgaben einer hilft. Dass Familie mehr ist als Mama, Papa, Bruder, Hamster und Pony (manchmal). Ich bin zum Beispiel mit Hingabe die Tante der Kinder meiner Schwester. Als solche lerne ich oft Kinder kennen, die bei denen ein und ausgehen, und davon wollte ich erzählen.

Nette Kinder! Aber man sieht manchmal und hört oft, wenn diese anders aufwachsen als meine Nichten. Hören in dem Sinn, dass sie schlecht sprechen. Dass sie nicht gut folgen können, wenn man eine Geschichte erzählt. Unruhe ausstrahlen, auch Aggression. Kinder sind es, denen die Enge bei Corona und die Abwesenheit von Aufsicht schlecht bekommen sind. Deren materielle Verhältnisse auf ungesunde Art bescheiden sind. Wo in den Familien ein Nahrungsproblem entsteht, wenn der Kindergarten mit Mittagsbetreuung geschlossen bleibt. Ich stehe da oft und denke: Das kann nicht wahr sein! Darf nicht wahr sein!

Sicher bin ich nicht mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen, aber ich hatte immer satt zu essen – und warm. Was für eine Gesellschaft sind wir, die das zulässt? Ich meine, ein Qualitätsmarker ist der Umgang mit den Schwächeren. Und wir, die wir es ganz gut haben: Wir sind oft mit dem Parkettfußboden und Weißwein beschäftigt, mit Kettenverträgen im Wissenschaftsbetrieb und (late to the party, aber der muss sein): Mit der feministischen Außenpolitik. Ich erzähle von diesen Gedanken meiner kleinen Schwester, der Bauingenieurin. Sie ist wahnsinnig konkret, also fällt ihr sicher direkt was ein. Ein Lösungsansatz und nicht gleich, wie das meine Art wäre, das Konzept an sich. Und ja: Schreibe einen Blogtext darüber, sagt sie. In Deutsch warst Du besser als ich.

Okay, gemacht. Und alle, die ihn gelesen haben, teilen den bitte und überlegen sich was. Danke, von uns beiden. Von Luise und von mir. Papa Bergmann gefällt das natürlich auch, und der kennt sich mit Kindern schließlich bestens aus.

Der Irrtum

Ich lebte mit diesem Mann zusammen, der den Frauen wohlgesinnt war. Und nicht auf die Anfass-Weise, die sich ländlich zugestanden wird, auch heute noch. Nein, dieser Mann war fein mit seinen Schwestern, seiner Cousine, den Töchtern, Nichten und Enkelinnen. Er förderte die Bildung von Frauen, gab ihnen Geld, wenn sie etwas lernen wollten, sprach zu. Er hatte seine Fehler, so war das nicht. Aber er war den Frauen auf eine Weise wohlgesinnt, die ich nicht kannte.

Ich bewunderte das. Und ich sah, wie Frauen wurden, die in einer solchen Umgebung aufwachsen. Wie sie, ohne zu zögern, scheinbar ohne überhaupt zu wissen, dass man zögern kann, ihre Chancen wahrnahmen. Durch die Welt reisten, sich hier und da einmieteten, die Männer wählten nach Belieben. Denen viele der Gedanken fremd waren, die ich mir machte. Und sei es nur, dass ich gute Schuhe trug, weil man im Einzelhandel viel steht. Man braucht die Füße ein Leben lang.

Der Mann und seine Frauen waren auf eine Weise selbstbewusst, die mir unvertraut war. Eine Mischung aus Bürgerlichkeit und deren Gegenteil. Sie leisteten sich allerlei, was ich von zu Hause anders kannte. Allein, dass da niemand wusste, wie man einen Knopf annäht. Dass selbst zu Beerdigungen Blümchenkleider angezogen wurden, dass – ach, na ja. Sie waren bunte Schmetterlinge, die ich mochte, ohne mich meiner selbst zu schämen.

Ich kann über dieses Milieu nichts Schlechteres sagen, als dass es eben überhaupt nicht meines ist. Ich liebte diesen Mann genug, um seine Schmetterlinge anzunehmen. Andere Männer haben rare Autos oder komische Hobbys, zum Beispiel Grabungen oder Münzen. Zu ihm gehörten diese verrückten Frauen. Ich merkte nur nach ein paar Jahren, ich brauche einen Ausgleich. Denn ich bin nicht so und will es auch nie werden. Das Milieu, aus dem ich stamme, ist in Ordnung.

Als Kontrapunkt in meinem Leben wählte ich die CDU. Wahrscheinlich ist das der blödeste jemals genannte Grund, ein Parteikärtchen zu erwerben, dessen Rückseite Konrad Adenauer in Öl verziert: Ausgleich gegenüber dem kultivierteren Teil der BRD-Linken, Schublade: Beamte im Bildungsbereich. Ich habe manchmal erzählt, ich sei der Merkel wegen beigetreten. Aber die Syrer kamen später. Ich war schon da, und das lag an dem Liebsten mit all seinen Schmetterlingen.

Ich ging also zur CDU, nahm mein Kärtchen, bezahlte zehn Euro im Monat und versank wieder im Alltag. Der Liebste wurde hinfällig, dann siech, dann starb er. Ich hatte über Jahre damit zu tun, die Schmetterlinge zu sortieren. Einige waren nicht so nett und harmlos, wie sie aussahen. Erbstreitigkeiten. Die CDU war irgendwie auch da, aber wenig präsent. Das ist ja einer ihrer Vorzüge: Du kannst als Frau die Familie vorschützen. Das wird nicht nur akzeptiert, das kommt sogar gut an.

Die CDU ist eine Partei, in der Frauen und ihren herkömmlichen Tätigkeiten, nämlich der Sorge für Kinder und Senioren, Rechnung getragen wird. Die schätzen es, wenn Du eine Oma im Schlepptau hast, die Draht erzählt. Die mögen, dass Du auf Ämter verzichtest, weil Du jeden Abend Punkt halb acht Essen servieren musst, denn die Oma hat nur diesen einen Annahmezeitpunkt. So ist die Demenz, und an der richtete ich mich eben aus. Der CDU gefiel’s.

Die CDU machte dies und das, was mir missfiel. Wozu ich mich äußerte, und nicht leise. Ich hatte erstens Zeit (Abendessen-Aufsicht), zweitens Reichweite (Internet) und drittens Spaß an der Konfrontation. Die CDU tat sich zum Beispiel schwer damit zu sagen, dass diese Pfeifen von der AfD am Tisch der Demokratie Messer und Gabel nicht zu führen wissen. Als die Herren und wenigen Damen in Blau mit den Fingern zu essen begannen, folgte mir die CDU. Aber es dauerte.

Die CDU gefiel sich in der Vorstellung, in Sachen Gleichberechtigung weit vorn zu sein. Bundeskanzlerin! EU-Kommissionspräsidentin! Wahnsinn, was die für kluge Frauen förderten. Meine Meinung war immer, daraus wird erst andersherum ein Schuh. Es gibt Frauen, zu allen Zeiten, die sind schlau und zäh genug, sich selbst in so einem Krawattenträgerverein durchzusetzen. Aber deswegen sind die Typen im Anzug noch nicht Frauen wohlgesinnt. Da hatte ich ja nun das Gegenmodell erlebt.

Wähler:innen waren häufiger derselben Ansicht, denn sie brachten uns 2021 eine Regierung aus Parteien, zu denen Menschen mit Lebensentwürfen gehören, die der CDU eher fremd sind. Ich will gar nicht sagen, dass sie bei der CDU etwas dagegen haben, wie Menschen auch leben, mit wem sie leben und wie sie sich das organisieren. Ich erlebe die CDU seit vielen Jahren als aufgeschlossen oder wenigstens als nett. Aber sie kennen manches nicht, und woher auch?

Es ist, da wo sie funktioniert, eine Partei des ländlichen Mittelstands mit all seinem Für und Wider. Wir kümmern uns um die kleinen und die alten Menschen, weil wir das richtig finden. Wir sind daran interessiert, dass der Staat die Versorgung begleitet. Aber der Staat ist draußen, und hinter meiner Haustür bin ich privat. Wir finden gut, dass der Staat viel Geld ausgibt, für Schwache aller Kategorien. Wir meinen aber, ein bisschen Entgegenkommen darf man dafür erwarten.

Ich will es nicht mal Leistung nennen. Aber es anzuerkennen, dass nicht alles selbstverständlich und auf Antrag kommt. Denn wir sind die, die das bezahlen. Mit unseren Steuern und auch, als Arbeitgeber:innen, mit unseren Nerven. Ich habe irgendwann aufgehört, Personen mit interessanter Biografie in der Buchhandlung zu beschäftigen. Ich mach das jetzt im Ehrenamt und auswärts. Punkt.

Soweit der Historie. Und jetzt ist diese freundlich-mottige Partei, in der ich mich durchaus wohlfühle wie auf einem alten Küchensofa (kennt man, passt sich dem Körper fast von selber an, wenn man sich darauf ablegt), also diese Partei hat nun festgestellt, ein Frauenproblem zu haben. Welches, so der Vorsitzende, aber nicht vorrangig sei. Denn auch Frauen müssten sich in der Sacharbeit bewähren. Wenn man sie denn fragt, und dann könnten sie ja auch mal zeigen, was sie draufhaben.

Das, lieber Friedrich Merz, das ist einfach echt ein Irrtum. Wer heute noch meint, Frauen warten, bis sie aufgerufen werden, der hat – tut mir Leid, dass ich das in aller Deutlichkeit so sage – politisch keine Zukunft. Nicht mal in der CDU.

Wo ist der Mann?

Der suchende Blick, seit diese Buchhandlung zum ersten Mal ihre Türen öffnete. Das ist lange her, und viel hat sich verändert. Als ich hier anfing, war das große Thema Service. Höher, schneller, weiter. Wir überschlugen uns alle, um jeden Tag fünfmal zu beweisen, dass wir besser seien als die Anbieter in der Stadt. Wo sie Kaffee hatten und man sitzen konnte, wo Anonymität gegeben war. Muss ja nicht jeder wissen, was wir privat so lesen. Nä, Frau Berchmann. Hamse Vaständnis füa.

Mit meinem Verständnis ist das so eine Sache. Ich begreife durchaus und recht schnell, worum es eigentlich geht. Dieser Service, lernte ich, der ist ein seifiges Brett. Da rutscht man schnell drauf aus – und sei es nur auf der eigenen Schleimspur. Viel wichtiger, es darf nicht langweilig werden. Denn Kleinstädte und Dörfer sind nun mal dort, wo sie sich eben befinden. Genau nicht am Nabel der Welt. Es ist zwangsläufig etwas, nein, sehr öde. Und der beste Dienst am Endverbraucher (m/w/d) ist die gute Unterhaltung. Immer mal was Neues, gelegentlich ein kleines Spektakel. Zwei-, dreimal in fünf Jahren auch ein Feuerwerk. Als da wären: Diverse Preise. Einige mit Urkunden, andere mit Geld. Ein höchst Geliebter, der viel älter war als ich. Die Kleine Oma. Irgendwas ist immer.

Zurzeit beschäftigt, dass die Kinder meiner Geschwister mir ähnlich sehen. Nä, Frau Berchmann. Wo Se die dann wohl foa uns vasteckt hatten. Kea, Kea, Mädchen. Frau Berchmann. Kinder und Eltern haben keinen Schaden von dem Gerede, und was soll es also. Servietten gehen gerade auffällig gut. Lunch- wie Cocktailservietten. Klassische Muster wie Blümchen noch etwas besser als die modernen Sorten, zum Beispiel mit Streifen. Was ungefähr belegt, welcher Alterskohorte die ermittelnden Milieus zuzurechnen sind. Es muss geredet werden.

Die Quatscherei ist wahrscheinlich wie ein Probealarm bei der Feuerwehr. Wenn der Fernseher nicht mehr tut: Im Notfall machen wir ein Feuerchen und erzählen uns Geschichten. Frau Berchmann, und das hatten Sie doch auch studiert, oder? Da in Sie Ihre Universität, wo der Nachbar gar nicht mal drauf klargekommen war, nä?

Geschichte, nicht Geschichten. Aber im zweiten Fach Literaturwissenschaft, und mein absolutes Lieblingsbuch ist nämlich: Morphology of the folktale von einem Herrn Propp aus Russland. Den man weiter gut finden kann, weil er lange tot ist und auch damals ein Gegner von Diktatoren war. Wladimir Propp wie Martina Bergmann: Die tun nix. Die haben halt komische Hobbys, aber das ist bei denen so. Gehirnmäßig sind die etwas anders gewickelt als der gemeine Mann. Sonst, okay.

Und Frau Berchmann, was hat der denn jetzt immer mit Ihrer Studiererei? Der hat doch nur, äh, Klasse 10. Weiß ich, von meiner Doris, die mit dem seine Mutter. Also, Frau Berchmann, dem sind Sie aber derbe über, nä. Ich sach dem das gleich mal eben. Frau Klüngelmeier, bitte ich. Nicht extra ärgern. Frau Klüngelmeier findet das blöd und trollt sich. Wiedervorlage, ich weiß es jetzt schon. Propp, Bergmann, Volksmärchen. Hä? Und wo ist denn jetzt endlich der Mann? Also, der das alles bezahlt? Weil, nä, Frau Berchmann. Ist ja gut und schön. Aber was ne ordentliche Firma ist, da gehöat doch schon der Mann ins Haus. Kea, Kea. Frau Berchmann.

Es ist das dreizehnte Jahr. Service als Alleinstellungsmerkmal wurde überschätzt. Die Alleinstellung ist heute, einfach da zu sein. Möglichst gut gelaunt und auf jeden Fall mit immer neuen Abenteuern. Worauf Sie sich verlassen können. Jau, Frau Berchmann. Wiaklich, wenn Sie das sagen. Da valass ich mich dadrauf. Studiert is besser wie gelabert. Quasi amtlich. Und so geht es immer weiter hier. Die Suche nach Bauland, Pi, dem Sinn des Lebens. Nur den Mann, der das bezahlt: Den gibt es nicht. Das ist einfach alles meins.

Die haben doch Türkisch-Unterricht!

Ich besuchte eine Grundschule, die soziale Gruppen zusammenbrachte, die sonst nicht miteinander verkehrten. Kinder wurden straßenweise Grundschulen zugeordnet, und meine Grundschule bestand aus dem Kern einer alten Ortschaft nebst einigen Bauernschaften. In den letzteren wohnten, der Name sagt es, Bauernfamilien. Zu jeder Bauernschaft gehörten zwei bis drei Straßenzüge mit Spitzdachhäuschen, wo die vierzig Jahre vorher eingetroffenen Flüchtlingsfamilien lebten. Man sagte zu ihnen Heimatvertriebene, und sie arbeiteten in einer Fabrik.

In derselben Fabrik arbeiteten auch Menschen mit schwarzen Haaren und dunkleren Augen. Diese hießen Gastarbeiter und lebten in den alten Häusern der Ortschaft, natürlich zur Miete. Die Kinder der Besitzer hatten sich andere Häuser gebaut, deren Straßen auch zu dieser Grundschule führten. Das waren dann aber schöne neue rote Häuser mit weißen Fugen und tiefen Fenstern. Ein eigenes Kinderzimmer für jede:n, darin ein heller Schreibtisch, dessen Höhe man verstellen konnte. Die Eltern dieser Kinder arbeiteten nur manchmal in einer Fabrik, und dann aber wirklich, wie man sagte, auf dem Büro.

Die Rollen war eindeutig verteilt. Die Mütter aus den Häusern mit den Fugen, also die Bauern- und Vermietertöchter, backten Kuchen für das Klassenfest. Die Mütter vom Bauernhof eher auch, aber die mussten außerdem Obst ernten, den Rasen mähen und drei bis sieben ledige Verwandte betreuen, wozu sie mit viel mit dem Auto herumfuhren. Die anderen Mütter gingen zur Arbeit; die Ärmsten. Es herrschte ständig große Sorge, dass Kinder benachteiligt würden, die nicht um zwölf Uhr dreißig ein warmes Mittagessen erhielten, welches die Mutter selbst oder wenigstens eine Oma zubereitet hatten.

Alle Kinder gingen zum Religionsunterricht. Die meisten hatten Evangelisch, was ich mir nett vorstellte, denn sie malten immer Bilder. Wir hatten in Katholisch eine mürrische alte Frau, die ständig von Schlesien erzählte und die sich wahnsinnig aufregte, weil ich das Kreuzzeichen nicht mit der schönen Hand ausführte. Sie war für das Argument der Linkshändigkeit unzugänglich, und ich neigte meinerseits schon damals nicht zum schnellen Frieden. Ich hatte also Katholisch, um mich im Streit zu erproben. Die Kinder, die dann noch übrig blieben, hatten Türkisch. Ich hielt das auch für eine Religion.

Die Frau, die Türkisch gab, sah aus wie alle anderen Lehrerinnen. Mittellanger Rock mit Falten, Bluse, Weste, Schmuck in Maßen. Sie hatte schwarze Haare, was mir einleuchtete, da die Kinder ihrer Religion auch etwas anders aussahen als ich. Die Türkischlehrerin neigte, das bekam ich irgendwann mit, zum Streit mit Eltern. Sie war gegen das Kopftuch! Ich verstand es nicht und ließ mir zu Hause erklären, dass Türkisch eben keine Religion sei. So einen Eindruck könnten nur gottlose Linke erzeugen, die keinen Glauben achteten. Manche türkische Leute hätten eine Religion, die von den Frauen forderte, ein Kopftuch zu tragen. Wir nähmen das zur Kenntnis, hörte ich zu Hause. Denn gute Katholiken sind tolerant!

Aber die Mädchen?, fragte ich. Haben die auch ein Kopftuch auf? Nee, sagte Mama. Eher nicht. Die sind ja schließlich Kinder. Stimmt, dachte ich. Das türkische Mädchen, das neben mir saß, hatte kein Kopftuch auf. Nur wunderschöne schwarze Haare, lang und glänzend. Ich war heimlich etwas neidisch, aber nicht sehr. Gute Katholiken sind tolerant! Ich traute mich nicht so richtig, das Mädchen zu fragen. Sie war viel größer als ich. Sie hatte im dritten Schuljahr schon Busen, und manchmal konnte sie beim Schwimmunterricht nicht mitmachen. Ich hatte mächtig Respekt vor ihr. Einmal war ich bei ihr zum Geburtstag eingeladen, und boah, war ich nervös. Ich nahm lieber meine kleine Schwester mit.

Wir gingen also in das für uns fremde Haus. Es lag ganz normal in einer Straße, an der wir ständig vorbeifuhren, zum Beispiel auf dem Weg zum Kindergarten. Voll das alte Haus, sehr dunkel. Vielleicht hatten sie sich das aus ihrer Türkei mitgebracht?, überlegte ich. Aber die Heimatvertriebenen hatten neue Häuser gebaut, und die Vermieter von den Gastarbeitern auch. Es musste sich also bei den türkischen Leuten um diese Gastarbeiter handeln. Sehr freundlich von ihnen, die dunklen alten Kästen zu bewohnen, die sonst keiner wollte. Ich schaute mich stark um, ich suchte nach Frauen mit Kopftuch. Jemand fragte, ob ich zur Toilette müsste. Nein, sagte ich, aber wo sind denn jetzt die Frauen mit dem Kopftuch?

Die Mutter von dem Mädchen mit den schönen schwarzen Haaren (kein Kopftuch!) redete irgendwas über Omas. Ok. Meine trug ein Korselett und eine Kittelschürze, die war auch anders angezogen als Mama. Wahrscheinlich trugen türkische Omas ein Kopftuch, und gute Katholiken sind tolerant. Die Mutter brachte Kuchen und süße Brause und lauter andere herrliche Sachen, die bei uns zu Hause verboten waren. Wir aßen Körner und tranken Tee. Manchmal flüchteten wir zu den Heimatvertriebenen nach nebenan, die aus ihrer Fabrik ständig Bonbons brachten. In dieser Fabrik hatten sie so viele Bonbons, dass daraus Bilder geklebt wurden, die in der Sparkasse herumhingen. (Dekoration!) Und wir aßen weiter Körner.

Der Kindergeburtstag in dem dunklen Haus war schon mal insofern super, als dass sie dort kein Problem mit Süßigkeiten hatten. Aber vielleicht mit blonden Kindern? Ich sah mich um. Luise und ich, weizenblond. Die anderen, schwarz wie die Nacht. Ich fragte die Mutter, ob sie was gegen blonde Kinder hätte. Nee, sagte sie. Aber die anderen Kindern kommen nicht, wenn wir sie einladen. Sie klang traurig. Später erzählte ich das beim Abendbrot, und meine Mutter stimmte dem zu. Sie hatte sich bei den Kuchenbackmüttern ziemlich unmöglich gemacht, als sie uns zu diesem Geburtstag brachte. Also waren sie nicht katholisch, überlegte ich. Papa mischte sich ein, was bei Kinderthemen unüblich war.

Engstirnig, sagte Papa. Kleinlich. Wir müssen ein Zeichen setzen. Zum nächsten Kindergeburtstag geht ihr alle vier. Das ist dann eine Demonstration. Wir warteten ab, ob er das womöglich wieder vergaß, denn wir hatten nicht soviel Lust, mit unseren Brüdern irgendwo hinzugehen. Die waren noch fast Babys, was bedeutete, Mama würde sie nicht alleine lassen. Und dann dürften wir keine Süßigkeiten essen, Luise und ich. Leider vergaß er das überhaupt nicht, was ich mir aber auch hätte denken können. Wir fuhren also eine Weile später zu viert dahin, mit Mama, und verbrachten einen sehr netten Nachmittag. Wir durften sogar Bonbons essen, was mir zeigte, es ging hier echt um was Höheres. Gute Katholiken sind tolerant!

Aber das Mädchen, das schon Busen hatte: Die war weg. Umgezogen, angeblich in diese Türkei. Vielleicht könnten wir mal hinfahren, überlegten wir. Hätte uns schon interessiert, Luise und mich. Wir nervten unsere Mutter eine Weile damit, Briefmarken zu kaufen, die bis dahin reichten, wo das Mädchen mit den schwarzen Haaren jetzt wohnte. Papa sagte eines Abends, die haben sie verheiratet! Ich habe Leute gefragt, die Leute kennen, auch aus dieser Fabrik. Und die haben ernsthaft das Kind verheiratet. Irgendwo ist auch mal Schluss mit dieser Toleranz; Thema durch. Ich erzählte das natürlich im Unterricht. Die evangelische Lehrerin und die katholische Lehrerin sagten, das geht jetzt zu weit.

Die türkische Lehrerin sagte, er hat Recht.

Und dann passierte nichts. Das Leben ging weiter. Sehr viele Jahre später, ich war beinahe vierzig, stand eine junge Frau hier in der Buchhandlung. Hoch gewachsen, lange schwarze Haare, elegant gekleidet. Bisschen bunter als ich, sehr viel Schminke. Eine selbstbewusste Person, die von ihrer Ausbildung zur Lohnbuchhalterin berichtete. Stolz, im Guten. Sie bestellte von ihrer Mutter Grüße. Sie selbst ist vier Jahre nach diesem Kindergeburtstag geboren worden, an dem ich im Alter von neun Jahren teilgenommen hatte.

Keine Pointe.

Wenn ich gute Laune habe, denke ich, ok, die Integration klappt heute besser als 1988. Wenn ich schlechte Laune habe, verkaufe ich einer der Kuchenmütter von damals ein echt langweiliges Buch. Es hätten mehr Eltern mehr wagen können.

Landnahme. Über die Unmöglichkeit des Dorfromans

Eine Gattung hat Konjunktur, die nennt sich Dorfroman. Es sind, dem Inhalt nach, meist Bücher über jüngere Frauen mit älteren Männern, die aus der Stadt ins Umland ziehen, um ihre Probleme zu lösen, was oft nicht gelingt. Aber sie legen einen Garten an und geraten in Kontakt zu ihrer menschlichen Umgebung, die völlig anders ist als das ihnen Vertraute. Diese Bücher verkaufen sich gut und bedienen also eine Nachfrage. Ich habe allerdings Zweifel, ob Dorfroman eine angemessene Bezeichnung für diese düster grundierte Gegenwartsprosa ist. Ich meine eher, das ist eine Anmaßung, die dem entspricht, was Leser:innen solcher Bücher auch im echten Leben gerne tun. Daher einige Beobachtungen.

Erstmal der Begriff: Was kennzeichnet ein Dorf? Die Abwesenheit der Stadtrechte für eine bestimmte Anzahl Straßen, an denen Häuser liegen? Die sprichwörtliche Kirche? Flutlicht am Bolzplatz? Was erhebt menschliche Ansiedlungen zu einem Dorf, und welchen Status erlangen dadurch die gemeinten Anwohner:innen? Wie viele Menschen bilden ein Dorf, im Mindesten und aber wirklich höchstens? Tankstelle, Bäckerei, Briefkasten, Bushaltestelle; sind das die Marker? Und wenn man sich sein Territorium abgesteckt hat, das für ein Dorf gelten soll: Je nun. Die Personen und ihre Konflikte: Was bieten sie, um daraus einen Roman zu machen? Roman in dem Sinn, dass es eine Handlung gibt, dass Figuren sich entwickeln – und sei es nur, dass sie verschwinden: Geht das auf? Ich glaube, nein.

Man kann in so ein Dorf ungefähr jede emotionale Situation der Menschen bauen: Liebe und Schmerz, Ehre, Treue, Verrat. Gier und Neid. Aber alles Große wirkt vor der kleinen Kulisse fast immer albern. Beispiel: Ein Dorf ist der Ort, wo sich die Leute in wenigen Kleidern begegnen. Der Stückzahl nach und auch vom Ausmaß der textilen Oberfläche. Karoflanelloberhemd und derbe Schuhe für die Männer; Frauen in Leggings, Jeggins, Jogpants. In Dehnbarem jedenfalls, das nicht zwangsläufig der Körperfülle geschuldet ist. Bequemlichkeit gilt viel. Es gibt tragische Liebe fraglos auch in solch einem Habit, aber wenn sie nicht klappt, springt keiner vom Balkon.

Die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass die beteiligten Figuren eins der Feste aufsuchen, die stets ein guter Anhaltspunkt dafür sind, eine Kulisse Dorf zu heißen. Feste in Zelten, die ritualisiert sich ereignen – immer dasselbe Wochenende, selten früher als im Mai und nach September eher auch nicht. Zelte in ihrer ganz eigenen Welthaftigkeit: Der leicht instabile Boden aus x-fach verlegten Holzbohlen, die Wände aus Streben mit wasserdichter Plane, schließlich ein halber Himmel bis zum Dach aus ebensolchem Material. Die Luft wird darin schnell eng, und Bier tut ein Übriges, die Nähe gewöhnlicher werden zu lassen als draußen auf der Straße. Man kann da was erleben. Man erlebt, was auch immer man erleben möchte, um zu vergessen, wie unglücklich man gerade war. Feste sind wichtig!

Sich dem Dorf anzunähern, bedeutet, von irgendwo zu kommen. Von weither oder aus der nächsten Stadt. Dörfer sind immer das Umland wenigstens ihrer Kreisstadt oder eines sogenannten Oberzentrums. Da gibt es Schulen, wo man Abitur machen und meist auch die Berufsschule besuchen kann. Akademiker:innen sind vorhanden; Studierte, die im Dorf eigentlich nur vorkommen als: A. Pastor. B. Grundschullehrerin. C. Zufall. A und B sind literarisch weithin beschrieben und müssen nicht von mir auch noch neu beredet werden. C. ist natürlich interessant. In früheren Zeiten (keine 300 Jahre, einfach die Bundesrepublik von Schmidt und Kohl) liefen unter C die sogenannten Alternativen. Denen sicher auch ein Roman zu widmen wäre, aber ich könnte den nicht schreiben. Er müsste sich im Düsteren verlaufen (Drogen, Rheuma, Armut, Einsamkeit), und ich mag nur Geschichten, die gut ausgehen. Was wiederum kein Kriterium von Literatur darstellt und höchstens etwas darüber sagt, dass ich selbst eine Dorffigur bin.

Nämlich: Die Buchhändlerin. Dörfer haben normalerweise keine Buchhandlung; dafür braucht es C. Zufall! Ich kam nach den Alternativen und bevor Juli Zeh dorfliterarisch wurde. Über meine Gründe haben andere Personen so viele Geschichten erzählt, dass ich nicht noch eine schreiben muss. Die Erfindungen der Nachbarschaft sind allesamt originell; Phantasie haben diese Leute ja. Aber jede einzelne würde im Lektorat entfernt mit der Bemerkung: Geht’s noch? Also, ich bin jetzt hier das zwölfte Jahr, und ich habe gelernt, das Interesse am Neuen, Fremden, Zufälligen ist sagenhaft. Im Dorf beschäftigen sie sich immerzu mit ihren Anderen, und wenn diese vorläufig auserzählt sind, ist es ein Beitrag zur Gemeinschaft, wenn man unter C erscheint. Beiträge zum Allgemeinen sind wichtig!

Ein weiterer Dorfindikator ist nach meiner Definition das ewige Gerede. Wer mit wem und wo, welche und wie viele Fahrzeuge und andere technische Installationen (PS, Benzinverbrauch; Bildschirme, Funkmasten und Daten). Man kann sowieso über alles reden, tut das auch, und als Geschäftsperson nach diesen Jahren habe ich so einen Fundus an Episoden, die mir angedichtet worden sind, dass ich daraus eine Vorabendserie schreiben könnte. Der ganze Quatsch! Aber will man das im Roman? Was im Dorf passiert und wovon wir erzählen, ist nie abgeschlossen. Vielleicht ist das Dorf zwar für Literatur geeignet, aber nicht ausgerechnet für Romane? Kurzgeschichten, Fabeln, alle solchen Formate. Johann Peter Hebel hat sie Kalendergeschichten genannt, und ich glaube, wenn man eine Dorf-Poetik suchte, würde man bei ihm besser fündig als in der Antike. Kurze Form, leicht lehrstückhaft. Gern heiter.

Ein weiteres Dorfmerkmal ist sicherlich Gelächter. Die fröhliche Albernheit, die hier ein Grundgeräusch bildet wie in der Stadt das Autobrausen. Über sie müsste ich länger nachdenken, weil ich sie mag und weil sie oft genug ersetzt, was man gelegentlich vermisst. Ablenkung, Geschwindigkeit, die neuen Bilder jeden Tag. Ach komm, lass uns lachen, sagt meine Schwester dann. Darüber ein andermal, weil dies ein schönes Thema ist, das aber mit den neuen Dorfromanen keine Berührung hat. Sie sind ja ernsthaft. Humorlos. Wenn man etwas lustig finden soll, wird das anmoderiert. Man erfährt über Figuren, dass sie sich gern ironisch geben, dass sie Sarkasmus für ein Stilmittel des Zwischenmenschlichen halten; man erfährt, worüber sie sich amüsieren. Über uns, in den Dörfern, wie wir trottelig herumstapfen und, tja. Noch nicht uns mit Äxten bekriegen, aber viel fehlt nicht.

Was wollen die nochmal hier? Die Figuren der Romane, wo Dörfer erschlossen werden genauso wie die realen Menschen, die ein Haus im Grünen kaufen? Die wollen Land, ganz einfach. Platz, Raum, Weite: Alles, wovon wir hier mehr haben als in der Stadt und wovon wir geben. Im Dorf ist man nicht kleinlich. Das Missverständnis dieser Landnahmen besteht meist darin, dass die Hinzukommenden sich durch den Kaufvertrag, die notariellen Urkunden, durch die Überweisung verblüffend hoher Geldbeträge direkt für eingemeindet halten. Und so geht es eben nicht. Dörfer sind freundliche Strukturen; Gewebe aus mündlichem Wissen, Gewohnheiten, oft aus Ungesagtem, das aber für alle gilt. Sie fangen irgendwo an, gehen weiter, ertragen allerlei An- und Umbauten.

Ich halte, wie ich oben schrieb, den Roman nicht für die nächstliegende Form, Dorfstrukturen literarisch abzubilden. Ich finde den Ton dieser Romane, das dunkel Beklommene mit Stich ins Aggressive, sowieso nicht schön. Aber er trifft, dies vor allem, die Stimmung der Dörfer nicht. Womöglich spiegelt er das Innere der Protagonisten, sofern sie denn Figuren und nicht einfach Lautsprecher ihrer Verfasser:innen sind. Dann müsste man das Genre aber anders heißen – Quengelroman vielleicht. Dass Dörfer dazu die Kulisse bilden, ist auch nur eine Landnahme, die dann nicht auf dem Immobilien-, sondern auf dem Buchmarkt sich ereignet. Möglich ist das. Aber es ist langweilig, und mit Dörfern hat es nichts zu tun. Geistige Flächenversiegelung halte ich für kein aufregendes Genre. Möge es rasch außer Mode kommen.